Lukas von Rossen streifte ziellos durch die Gassen der oberen Stadtringe. Es war der zweite Abend nach dem Aufstand. Ihm war nicht danach, mit den anderen auf der Burg zu sitzen. Und für heute war alles getan, was getan werden konnte.
Sie hatten das Stadttor wieder unter Wache gestellt und Aussichtsposten auf die Mauer geschickt. Zwar erwarteten sie den Angriff von des Bischofs Truppen erst in einigen Tagen, aber sie wollten auf alles gefasst sein.
Die Ritter Leopold und Friedrich waren auf dem Burgfriedhof in das Grab gestiegen und dem geheimen Gang gefolgt. Sie hatten aber die Tür in der Mitte des Ganges nicht öffnen können.
Alle nicht geplünderten Vorräte der Burg waren gezählt worden. Sie hatten in den Gewölben noch große Lager mit Getreide, Äpfeln, getrockneten Früchten und hartem Käse gefunden. In den Mieten des Burggartens lagerte eine beträchtliche Menge Wurzelgemüse. Viele Wagen wurden mit diesen Funden beladen und in die Stadt geschickt. Dort wurde an das Volk verteilt, was ihm ohnehin gehörte.
Ebenso machten sie es mit dem Großteil des Feuerholzes, das auf der Burg gelagert war. Der Stadtherr sollte bei seiner Rückkehr so wenig wie möglich von seinem Reichtum wiederfinden und das Volk sollte so viel wie möglich bekommen, um den Winter zu überstehen.
Die Menschen dankten ihnen und priesen die Ritter als Befreier und neue Burgherren. In der ganzen Stadt herrschte frohe Stimmung. Die Menschen nahmen ihre Handwerke wieder auf und die Bauern begutachteten den Zustand ihrer Felder. Kinderlachen erscholl und nur wenige wussten um die Gefahren, die von außerhalb drohten.
Der Bader, der gegen die Korbmacherin ausgesagt hatte und ein paar der ärgsten Plünderer waren ergriffen und im Burgverlies eingesperrt worden.
Eigentlich hätte Lukas mit seinem Tagwerk zufrieden sein können. Aber seine Miene war düster und seine Schritte unstet. Er gab vor, in der Stadt nach dem Rechten zu sehen, aber es war nur die Unruhe und Bitterkeit, die ihn umtrieb.
Der Aufstand war verloren, dieser unangenehme Wentzel tat sich als neuer Anführer auf und er, Lukas von Rossen, hatte nichts gewonnen und nichts, was von Dauer wäre, geändert.
Ein kleiner Junge lief auf ihn zu. „Herr von Rossen, Herr Ritter, ich habe eine Nachricht für Euch!“ Aufgeregt hielt der Junge ihm eine kleine Schriftrolle hin. Verwundert nahm der Ritter sie entgegen und entlohnte den Jungen mit einem Pfennig. Strahlend schloss der Kleine die Münze in seine Faust und rannte wieder die Gasse hinunter.
Die Schriftrolle war nicht versiegelt. Es war nur ein altes Stück Leder, auf das mit einem Stück Holzkohle geschrieben war:
Kommt ins Haus des Baumeisters. M.
Magnus! Lukas spürte Zorn in sich aufsteigen. Was wollte der Verräter?
Er stürmte die Gassen hinunter in den untersten Stadtring. Kurz vor dem Haus des Baumeisters wurde er vorsichtiger. Das könnte auch ein Hinterhalt sein! Aber er sah und hörte niemanden auf der dunklen Gasse.
Lukas trat an die Tür des Baumeisters, zog langsam und leise sein Schwert und klopfte an. Innen hörte er Schritte und das Lösen des Riegels. Sofort warf sich Lukas gegen die Tür, stieß den überrumpelten Magnus nach drinnen und zu Boden, warf sich auf ihn und hielt ihm das Schwert an die Kehle.
„Du Verräter!“ zischte Lukas zwischen den Zähnen hervor. „Ich weiß alles! Warum hast du das getan? Gold hättest du auch von uns haben können! Los, rede, oder ich schneide dir die Kehle durch!“
Aber Magnus konnte gar nicht reden, er ächzte und schnappte unter dem Gewicht des Recken wie ein Fisch nach Luft. Mit einer freien Hand wedelte er, um dem Ritter zu bedeuten, dass er etwas Atem brauchte
Lukas, der wusste, dass von Magnus keine Gefahr für ihn ausging, ließ von dem jungen Mann ab und stand auf. Das Schwert weiterhin in der Hand führend, verschloss er die Tür, wandte sich zu dem immer noch hustenden und röchelnden Magnus um und blickte verächtlich auf ihn herab.
Er griff den am Boden Liegenden an seinem Kragen und zerrte ihn auf die Füße, nur um ihn gleich darauf auf einen Stuhl zu werfen. Überlegen und fast spielerisch richtete er seine Schwertspitze auf den anderen.
„Und jetzt rede!“ knurrte er ihn an.
Magnus, eine Hand an seinem Hals, die andere beschwichtigend erhoben, krächzte: „Lasst mich erklären.“
„Ich bitte darum“, spottete der Ritter.
„Ich wollte nur ein Blutvergießen verhindern! Auf beiden Seiten!“
„Ah, und deshalb ist jetzt der Stadtherr, dieser Verbrecher, auf freiem Fuß und hat auch noch in aller Ruhe sein ganzes Gold mitnehmen können. Weißt Du eigentlich was das heißt? Er wird mit des Bischofs Truppen zurückkehren und die Stadt einnehmen. DAS gibt Blutvergießen!“
Magnus lächelte schief. „Mitnichten, Freund Lukas, mitnichten!“
„Was soll das heißen? Und nenne mich nicht Freund!“
„Der Stadtherr ist gefangen. Er sitzt in einer geheimen Kammer über dem Stadtgraben und kann nicht hinaus. Und sein ganzes Gold liegt im Wehrturm. Aber das weiß er nicht, das weiß niemand, nur ein Ritter namens Wentzel!“
„Wentzel?“ Lukas verstand gar nichts, außer dass es sich hier um eine längere Geschichte handeln musste.
„Erzähle!“ forderte er Magnus barsch auf. „Aber von Anfang an. Und wehe du lügst!“
Lukas ließ sich angespannt auf der Bank nieder und Magnus erzählte. Von dem geheimen Gang, wie er Anna befreit hatte und wie er auf der Burg so getan hatte, als wäre er ein Verräter. Auch von der Münze in Wentzels Händen und dessen Raub des Goldes berichtete er.
„Dieser Mistkerl“, fluchte Lukas und sprang von der Bank auf. „Ich habe sofort gewusst, dass mit dem etwas nicht stimmt.“
Wütend ging er ein paar Schritte auf und ab. Dann fuhr er zu Magnus herum.
„Beweise mir, dass du die Wahrheit sagst!“
„Gut, dann folgt mir in den geheimen Gang.“
*
Der zweite Tag nach dem Aufstand war angebrochen und unter den Rittern auf der Burg wuchs die Anspannung. Leopold der Rote, Franz vom Stein und Friedrich Hallenstätten standen im obersten Turmzimmer und schauten in die Ferne. Sie erwarteten jederzeit die Truppen des Bischofs und des Stadtherrn. Aber noch rührte sich nichts.
„Mir wäre wohler, sie würden endlich kommen“, knurrte Leopold. „Dieses Warten ist nicht auszuhalten.“
„Ich möchte wissen, wo Wentzel und Lukas stecken“, sagte Friedrich.
„Wentzel schläft wohl noch seinen Rausch aus“, bemerkte Franz. „Er hat sich gestern ein Fässchen Rum aus dem Gewölbe geholt.“
„Und Lukas?“
„Der hat die Nacht nicht auf der Burg verbracht!“
„Zur Hölle, feiern die jetzt einen Sieg, den wir gar nicht errungen haben?“ Leopold der Rote war tatsächlich rot angelaufen.
Franz, der nach unten auf den Burghof geblickt hatte rief: „Da ist er! Lukas!“
Sie liefen rasch nach unten und begrüßten ihren Freund.
„Ich habe Neuigkeiten“, sprach Lukas und ein triumphierendes Grinsen spielte um seine Lippen. „Sehr gute Neuigkeiten. Wo ist Wentzel?“
„Der schnarcht in seiner Kammer und stinkt nach Rum!“ sagte Leopold.
„Sehr gut! Kommt mit. Wir gehen in den untersten Stadtring.“
Verwundert folgten ihm die drei Ritter, aber so viel sie auch fragten, Lukas verriet nicht, was er vorhatte.
Schließlich kamen sie am nördlichen Teil der Stadtmauer an. Eine schmale Treppe führte sie hinauf. Oben erreichten sie zu ihrer Verwunderung einen großen Flaschenzug, ein Boot und – Magnus!
Die Ritter glotzen sprachlos. „Ja“, sagte Lukas, „so habe ich auch geschaut. Aber Ihr werdet noch mehr staunen. Und lasst Magnus in Ruhe, er ist kein Verräter. Im Gegenteil.“
„Das ist wahrlich eine gute Nachricht“, rief Leopold, ging auf Magnus zu und schlug ihn derart herzlich auf die Schulter, dass Magnus fast den Halt verloren hätte. „Ich konnte nicht glauben, dass Ihr ein schlechtes Herz habt, Junge!“
Auch Franz und Friedrich begrüßten Magnus freudig. Dann aber konnten sie ihre Neugier nicht mehr bezähmen und bestürmten ihn mit Fragen.
„Später, meine Herren!“ sagte Magnus, froh wieder unter Freunden zu sein. „Jetzt helft mir, dieses Boot über die Mauer zu bringen.“
Schließlich stiegen Franz und Lukas in das Boot. Friedrich und Leopold ließen das schwere Gefährt dann langsam über den Flaschenzug in die Tiefe. Währenddessen erklärte Magnus ihnen in kurzen Worten, was die beiden Ritter unten über dem Wasser des Stadtgrabens finden würden.
Leopold blieb der Mund offenstehen. „Nicht wahr!“ sagte er und starrte Magnus an. „Ihr habt diesen Verbrecher ganz allein gefangen und eingesperrt?“
„Sagen wir mal so“, antwortete Magnus bescheiden, „ich habe ihn eher überlistet. Er ist von allein in die Falle gegangen.“
„Er muss halb verhungert sein“, sagte Friedrich.
„Ach was, der hat genug auf den Rippen um drei Wochen zu fasten“, bemerkte Friedrich. „Wasser hatte er ja mehr als genug!“
Die drei lachten und blickten neugierig in die Tiefe. Von unten wurden Rufe laut.
Die Seile wackelten und sie hörten Lukas Stimme in spöttischem Befehlston. Schließlich rief es von unten laut „Auf!“ und die beiden Ritter zogen das Boot langsam wieder herauf.
Oben angekommen, saß wie ein Häuflein Elend der pudelnasse Stadtherr, gebunden an Händen und Füßen im Boot. Er starrte Magnus mit hasserfülltem Blick an.
„Er ist beim Einsteigen leider ins Wasser gefallen“, erklärte Franz mit gespieltem Bedauern.
„Das wird Euch noch leidtun“, zischte der Stadtherr. „Ich habe Freunde! Mächtige Freunde! Und ich habe Geld und Gold! Sie werden kommen und mich befreien und die Stadt zurückerobern. Ihr werdet alle sterben!“
„Nun gut,“ antwortete Lukas, „dann schlage ich vor, wir schauen als erstes Mal nach Euren Schätzen.“
Sie lösten die Fußfesseln des Stadtherrn und nahmen ihn mit wenig nachsichtigem Griff zwischen sich.
„Zieht ihm die Kapuze ins Gesicht, sonst wird er unterwegs vom Volk gemeuchelt!“ sagte Friedrich. Und so schleiften die Ritter ihren Gefangenen mehr, als er selbst laufen konnte, die Treppen hinunter und durch den untersten Stadtring. Die Menschen, denen sie begegneten, starrten die seltsame Gruppe an. Die Ritter aber grüßten freundlich und sagten, man solle keine Sorge haben, es sei alles bestens.
Als sie am Wehrturm ankamen, klopften sie an die Tür. Ein kleines Sichtfenster wurde von innen geöffnet. Als der Wachmann Lukas und Magnus erkannte, öffnete er den schweren Riegel und ließ die kleine Schar in den Turm ein. Hinter ihnen wurde die Tür wieder verriegelt.
„Was soll das hier?“ fragte der Stadtherr.
„Wir dachten“, antwortete Magnus, „dass Ihr vielleicht einmal wissen möchtet, wie es Euren Gefangenen so ergangen ist. Zum Beispiel der Korbflechterin, die ihr mutwillig habt verurteilen lassen.“
Und sie führten ihn nach unten in das Verlies und warfen ihn in die Zelle, in der Anna so lange hatte ausharren müssen.
„In dieser Zelle“, fuhr Lukas fort, „hatte übrigens Euer Wentzel all Euer Geld und Gold eingeschlossen. Er wollte es sich unter den Nagel reißen. Er war es auch, der den Aufständischen Eure eigenen Waffen verkauft hat. Leider ist sein Plan, dank unseres Magnus hier, nicht aufgegangen. Sehr bedauerlich. Besonders für den Bischof, der nun gar keine Truppen ausrüsten kann, um Euch zu befreien.“
„Das ist eine Lüge!“ rief der Stadtherr.
„Das werden wir ja sehen“, sprach Lukas und knebelte den Gefangenen, bevor er das Verlies abschloss.
Die drei Gefährten von Lukas und Magnus hatten das Gesagte mit wachsendem Erstaunen angehört.
„Wentzel ist also ein doppelter Verräter?“ fragte Ritter Franz vom Stein und Lukas nickte.
„Er hat alles Geld unter dem Vorwand hier einschließen lassen“, erklärte Magnus, „dass die schweren Säcke bei der Flucht hinderlich seien und auch zu leicht gestohlen werden könnten. Aber weder ist er mit den Fliehenden gegangen, noch hat er Euch von dem gesicherten Schatz berichtet.“
„Er wollte das Geld und womöglich auch die Macht über die Stadt“, folgerte Leopold der Rote.
„Aber er war verunsichert“, warf Magnus ein, „weil er für seinen Plan eigentlich den Stadtherrn auf der Flucht hätte ermorden müssen.“
Der Gefangene in der Zelle riss die Augen auf.
„Das habe ich verhindern können“, fuhr Magnus fort.
„Das hätte uns aber eine Menge Arbeit abnehmen können“, knurrte Leopold. „Jetzt müssen wir dem Burschen erst einen Prozess machen, bevor wir ihn aufknüpfen können. Oder sollen wir ihn gleich jetzt erledigen?“
Die anderen erkannten, dass diese Worte nur dazu dienten, dem Gefangenen noch mehr Angst zu machen.
„Ach nein“, erwiderte Lukas scheinbar leichthin, „wir sollten ihn noch seine Niederlage ein bisschen auskosten lassen.“
„Und wie geht es jetzt weiter?“ fragte Franz. „Sollen wir uns diesen Wentzel schnappen?“
„Ja,“ antwortete Lukas, „wir werden ihn auf frischer Tat ertappen.“
„Denn er wird hierherkommen, um sein Gold zu holen“, sagte Magnus. „Vermutlich liegt er gar nicht im Rausch in seinem Bett, sondern hat längst einen Karren beschafft, um heute Abend in der Dunkelheit den Schatz zu bergen.“
„Und wo ist der Schatz?“ fragte Friedrich und blickte sich suchend um.
„Den haben wir in der letzten Nacht geborgen“, grinste Lukas. „Er liegt längst unter der Burg versteckt und ist sehr gut verschlossen. Hauptsächlich ist er dadurch sicher, dass niemand weiß, wo er ihn suchen soll.“
Um die Zeit bis zum Abend zu vertreiben, erzählte Magnus ausführlich von seinen Abenteuern im Geheimgang, von der Sprengung am Durchgang zur Burg und davon, dass er und Lukas einen anderen, sehr ähnlichen Schlüssel unter der Asche im Haus des Baumeisters versteckt hatten.
„Wir brauchen nur zu warten“, endete er.
Und als die Nacht erst hereingebrochen und es in der Stadt still geworden war, dauerte es nicht mehr lange. Der Wachmann kam leise die Treppe herunter und meldete, dass vor der Tür eine Kutsche gehalten habe. Bald schon hörten sie das erwartete Plätschern im Brunnen und zogen sich in den Schatten der Wände zurück.
Wentzel hievte sich aus dem Brunnen und zückte den vermeintlichen Kerkerschlüssel. Als er in dem Gefängnis anstatt einem Haufen Säcke voller Gold den gefesselten und geknebelten Stadtherrn erblickte, erstarrte er. Seine Hand fuhr an seine Seite, aber da war kein Schwert. Er trug auch keinen Harnisch. Beides hätte ihn im Wasser nur in die Tiefe gezogen.
Hinter ihm ertönte ein Klirren, er fuhr herum und sah sich vier Schwertspitzen gegenüber.