Ritter Lukas von Rossen lenkte seinen benommenen Gefährten durch den grölenden Mob auf den Straßen der Stadt. Der Plan des Bischofs war aufgegangen. Wo gestern noch über den Stadtherrn geflucht worden war, ergingen sich die Leute heute in Saufgelage. Viele andere verriegelten besorgt ihre Türen und schlossen ihre Fenster.
Magnus stolperte im eisernen Griff seines Freundes neben Lukas her. Bald kamen sie in die einsameren Gassen im untersten Stadtring. Kurz vor dem Tor ließ der Ritter endlich seinen Arm los und sprach: „Nur Mut Magnus. Es ist nichts verloren. Morgen, wenn der Mob sein letztes Geld verzecht und einen schweren Kopf hat, wird er wieder merken, wie elend es ihm geht. Die Klugen, die nicht mitsaufen, sind jetzt schon auf unserer Seite. Und dann kommt unsere Stunde!“
„Morgen ist Freitag!“ erwiderte Magnus. „Am Sonntag wird Anna hingerichtet. Wie sollen wir bis dahin einen Aufstand anzetteln?“
„Vertrau mir, Junge, wir werden einen Aufstand anzetteln“, sagte der Ritter grimmig. „Höre mir jetzt genau zu!“ Er schüttelte seinen jungen Freund an den Schultern, bis dieser ihn anblickte.
„Ich habe bei meinen Rittern zu tun. Du hast eine andere Aufgabe. Ich habe jemanden gefunden, der dir helfen wird. Geh diese Gasse an der Stadtmauer entlang, bis zu einer schmalen Holztür. Klopfe dort an. Man erwartet dich bereits.“
Und damit ließ er seinen Gefährten einfach stehen und ging mit langen Schritten davon.
Magnus stand allein und benommen am Tor. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als Lukas‘ Anweisungen zu folgen. Er hätte nicht gewusst, was er sonst tun sollte.
Also ging er die Gasse hinunter. Von oben aus der Stadt hörte er Singen, Kreischen und Grölen. Hier unten war es menschenleer. Sehr bald kam er an eine Lehmhütte, die wie an die Stadtmauer angeklebt dastand und ganz den Eindruck machte, dass sie ohne diese Stütze einfach umgekippt wäre. Eine schmale Holztür zeigte den Eingang an. Magnus klopfte.
Erst rührte sich gar nichts. Dann hörte er, wie sich drinnen schlurfende Schritte näherten. Die Tür wurde geöffnet und dort stand ein alter Mann, gekleidet in eine Kutte und auf einen Stock gestützt.
„Ah, Magnus, nicht wahr? Komm herein Junge!“ sprach der Alte mit erstaunlich kräftiger Stimme.
Magnus betrat den Raum und hinter ihm schloss sich die Tür. Einen Augenblick musste er sich an das dämmrige Licht im Inneren gewöhnen. Dann sah er eine ordentlich aufgeräumte Kammer mit Tisch, Stuhl, Bank und Bett. Linker Hand stand eine große Kleidertruhe und gegenüber der Tür brannte ein kleines Herdfeuer unter einem Kessel.
„Setz dich!“ forderte der Alte ihn auf und wies auf die roh gezimmerte Bank. Er setzte sich ebenfalls und sah seinen Gast ruhig und lange an. Magnus hatte noch kein einziges Wort gesprochen.
„Du hast Zweifel, Magnus“, sagte der Alte. „Ich sehe es dir an. Zweifel und Angst – und sehr viel Mitgefühl! Das ist gut.“
„Was ist daran gut?“ fragte Magnus.
„Es hindert dich daran, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen.“
„Warum bin ich hier?“ fragte Magnus.
„Ich werde dir zeigen, wie du deine Anna befreien kannst.“
Magnus stockte das Herz. Bisher hatte er sich kein klares Bild darüber gemacht, wie genau die Gefangene gerettet werden sollte. Er hatte geglaubt, dass Lukas vielleicht im Tumult des Aufstandes den Kerker öffnen würde. Dass er selber nun für Anna befreien sollte, erschreckte ihn. Was, wenn er es falsch machen würde?
Der Alte zündete zwei Laternen an und reichte eine davon Magnus. Dann ging er in den hinteren Teil der Kammer und öffnete die Kleidertruhe. Zu Magnus Verwunderung stieg der Alte in die Truhe hinein. „Komm, folge mir“, sagte er. „Und schließe den Deckel über dir!“ Mit diesen Worten verschwand der Greis in der Truhe.
Magnus beeilte sich, ihm zu folgen und erkannte, dass der Boden des Möbels fehlte und stattdessen roh behauene Steinstufen in eine finstere Tiefe führten. Er stieg hinab und schloss, wie befohlen, über sich den Deckel.
Es ging nur wenige Stufen hinunter in einen mannshohen Gang, der gut und gerne Platz für zwei Mann nebeneinander bot. Magnus erkannte, dass sie sich im Inneren der Stadtmauer befanden. Die Mauer war dick, so dass obenauf Wachen hin und her gehen konnten und im Inneren Platz für einen Tunnel blieb.
„Ich wusste nicht, dass die Mauer hohl ist!“ sagte er.
„Ist sie nicht“, antwortete der Alte und schlurfte voraus. „Sie hat nur diesen Gang in ihrem Fundament. Mein Ururgroßvater war der Baumeister als diese Stadt entstand. Der Gang wurde in die Mauer gebaut, um einen geheimen Weg von der Burg in die Stadt zu schaffen. Aber die Burg ist seitdem so oft im Kampf erobert worden, dass das Geheimnis nicht weitergegeben wurde. Nur jeweils der älteste Sohn des Baumeisters wusste von diesem Gang. Aber lass uns jetzt schweigen. Die Steine tragen das Echo unserer Worte weit und wir wollen nicht entdeckt werden.“
Und so schwiegen sie, während sie immer weiter gingen. Der Gang stockdunkel und kalt. Ihre Laternen waren nur ein schwaches Licht in der Finsternis. Magnus verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum. Ihm war bald, als würde er schon ewig in diesem Gang sein und als würde er nie enden. Die Erinnerung an Licht war fern und erschien ihm wie ein Traum.
Auf einmal wurden Schritte des Alten langsamer und er streckte eine Handfläche nach hinten, um Magnus zu bedeuten, dass sie anhalten würden. Als sie standen, drehte sich der Alte zu ihm um und legte seinen Finger auf die Lippen. Magnus nickte, er hatte verstanden. Dann deutete der Alte mit dem gleichen Finger nach vorne und Magnus erkannte im schwachen Schein der Laterne, dass sich in dem Schatten vor ihnen ein hellerer Schatten abzeichnete. Da war eine Art Ausgang oder Durchgang in eine andere Art von Finsternis.
Der Alte legte nochmals mahnend den Finger auf seine Lippen und winkte Magnus dann, ihm zu folgen.
Zu seinem Entsetzen beobachtete Magnus, wie sich der Alte an dem Durchgang langsam und vorsichtig über die Bodenkante nach unten gleiten ließ. Er hörte ein leises Gluckern und begriff, dass dort Wasser war. Als er näherkam, erkannte er eine kreisrunde Wasserfläche, umschlossen von einer Mauer. Ein Brunnen! Sie waren in einem Brunnen!
Als er dem Alten folgte und in das eiskalte Wasser glitt, hatte er Mühe, seine Laterne nicht unterzutauchen. Er blickte nach oben, aber der Brunnen musste sich innerhalb eines Gebäudes befinden, denn er sah kein Licht.
Derweil der Alte auf der anderen Seite der Brunnenwand eine gleiche Öffnung erreichte wie die, aus der sie herausgekommen waren. Sehr langsam, um möglichst keine Geräusche zu machen, stiegen sie nacheinander wieder aus dem Wasser.
Zitternd vor Kälte folgten sie einem weiteren endlosen Gang. Bald schien es wieder sicher zu sein, denn der Alte begann zu sprechen.
„Wir sind jetzt fast auf der Seite der Stadt, die gegenüber dem Haupttor liegt.“
Wenig später stellte Magnus fest, dass es sehr langsam ein wenig heller wurde. Graues Licht drang von irgendwoher in den Gang. Und als sie weit genug in der Krümmung ihres Wegs vorangekommen waren, erkannte er, dass zu seiner Linken das Licht des hellen Nachmittags hereinfiel. Da war ein Loch in der Mauer, eine Art Fenster. Und direkt davor endete der Gang vor einer schweren Tür mit einem mächtigen Riegel.
„Diese Tür ist für deine Angelegenheit unwichtig“, erklärte der Alte. „Sie führt hinauf in die Burg und ist seit vielen Jahren nicht geöffnet worden. Sie ist genauso in Vergessenheit geraten wie das, was du gleich sehen wirst.“
Der Alte wandte sich dem Fenster zu.
„Schau hinaus“, forderte er den Jungen auf. „Hab keine Sorge, dort kann dich niemand entdecken. Man kann diesen Teil des Grabens von der Stadt aus nicht einsehen.“
Magnus steckte seinen Kopf durch das Loch und sah sich fast unmittelbar über dem tiefen Wasser des Stadtgrabens.
„Geh ins Wasser und schwimme nach rechts. Nach wenigen Metern wirst du sehen, warum wir hier sind.“
Einen kurzen Moment lang hatte Magnus Angst, in eine Falle geraten zu sein. Aber dann stieg er doch in das Wasser und schwamm an der Mauer entlang nach rechts. Schon nach wenigen Schwimmzügen sah er einen Eingang in der Mauer. Knapp über der Wasseroberfläche befanden sich Stufen, die ihm den Eintritt erleichterten. Tropfnass betrat er eine Kammer, die neben der Tür nur ein vergittertes Fenster aufwies. In der Kammer gab es nichts außer ein paar zerlumpten Decken und einen leeren Krug.
Durch Tür und Fenster erblickte er nichts als die gegenüberliegende, steile Wand des Stadtgrabens und darüber, hoch oben, dichten Wald.
Als Magnus sah, dass es mehr nicht zu entdecken gab, glitt er wieder ins Wasser und kehrte zurück zu dem Tunnel.
Nachdem er wieder aus dem Wasser geklettert war, drehte sich der Alte ohne ein Wort um, hob wieder seine Laterne auf und machte sich auf den Rückweg.
„Äh“, Magnus wollte fragen, ob es das jetzt schon gewesen war, aber es war Antwort genug, dass der Alte einfach wieder wegging.
Und so folgten sie dem ganzen Weg wieder zurück, durchschwammen den Brunnen und liefen durch die Stadtmauer, bis sie wieder in der Hütte aus der Kleidertruhe stiegen.
Inzwischen dämmerte draußen der Abend. Sie waren lange unterwegs gewesen. Der Alte stellte die Laternen auf den Tisch und reichte Magnus ein paar trockene Kleider. Als sie sich abgetrocknet und angezogen hatten, legte der Alte Brot auf den Tisch und schöpfte aus dem Kessel überm Feuer für jeden eine Schale Brei. Hungrig schlang Magnus das Essen hinunter. Erst als auch die Schale des Alten geleert war, bekam er eine Erklärung für ihre Wanderung in der Finsternis.
„Du wirst deine Anna in der geheimen Kammer über dem Wassergraben verstecken“, sagte der Alte.
Natürlich hatte Magnus sich etwas dergleichen gedacht, aber während ihrer Wanderung zurück hatte er sich auch viele besorgte Gedanken gemacht.
„Seid Ihr sicher, dass diese Kammer wirklich geheim ist?“ fragte er.
„Ja, niemand hat Kenntnis davon. Man kann sie nur sehen, wenn man auf der anderen Seite des Grabens auf eine hohe Eiche klettert. Und warum sollte das jemand tun? Dort ist keine Straße, noch nicht einmal ein Trampelpfad.“
„Aber es gibt doch sicherlich Leute, die in Booten durch den Stadtgraben fahren.“
„Ja, die gibt es“, der Alte lächelte zum ersten Mal. „Das ist seit jeher die Aufgabe der Baumeisterfamilie. Meine Vorfahren haben auf diese Weise die Mauern kontrolliert und Schäden repariert. Wir waren angesehene Leute, aber heute weiß niemand mehr, dass wir die Baumeister sind. Für den Stadtherrn sind wir nichts weiter als Schergen, die den Unrat aus dem Stadtgraben fischen. Und jetzt bin nur noch ich übrig und ich bin der Letze, der von dem geheimen Gang weiß.“
„Wie soll ich aber Anna aus dem Verlies befreien?“ stellte Magnus seine zweite, viel wichtigere Frage.
„Denke nach, Junge“, antwortete der Alte. „Wir sind durch die Stadtmauer gegangen! Wo müssen wir also entlanggekommen sein?“
Magnus schnappte nach Luft. „Unter dem Wehrturm!“ flüsterte er.
„Genau!“ antwortete der Alte. „Der Brunnen, durch den wir geschwommen sind, befindet sich im Wehrturm, direkt vor dem Kerker, in dem die Gefangene eingesperrt ist. Du findest in der Brunnenwand eiserne Griffe, an denen du bis zu einer Nische hinaufklettern kannst. In der Nische liegt ein Seil mit einem Haken, den du auf den Brunnenrand werfen kannst, um dich daran hochzuziehen.“
Magnus sank das Herz. Zwar konnte er durchaus an einem Seil hochklettern, aber eine Gefangene aus dem Kerker zu befreien war etwas ganz anderes. „Bei aller Dankbarkeit für Eure Hilfe – diese Aufgabe scheint mir zu groß für einen einfachen Burschen wie mich. Sollten wir nicht einen der Ritter mit dieser Aufgabe betrauen?“
„Oh nein“, antwortete der Alte. „Diesen jungen Heißspornen möchte ich das Wissen um den geheimen Gang nicht anvertrauen. Ich bin kein Freund von Kampf und Krieg. Aber ich bin auch kein Freund des Stadtherrn und ich kann so schlecht Menschen leiden sehen. Deshalb habe ich meine Hilfe bei der Befreiung der Gefangenen angeboten. Mit dem Aufstand will ich nichts zu schaffen haben.“
Magnus verstand nur zu gut. „Aber ich bin kein Held. Sicher werde ich entdeckt. Und Anna ist auch eingeschlossen. Wie soll ich an den Schlüssel gelangen?“
„Das ist leichter, als du denkst. Der Turm hat nur eine einzige Tür, die auf die Gasse des untersten Stadtrings hinausgeht. Die Wachen befinden sich in einer Wachkammer hinter dieser Tür, die von innen mit einem schweren Riegel verschlossen wird. Wer in den Turm eintreten will, wird erst durch eine Luke in der Tür vom Wachmann in Augenschein genommen. Beim Wachwechsel verriegelt sich dann der nächste Büttel in der Wachkammer. Von dieser Kammer zum Verlies muss erst eine kurze Treppe hinunter gegangen und eine hölzerne Tür geöffnet werden. Dahinter ist der Kerker und vor dem Kerker der Brunnen.“
Magnus wurde ganz schwindelig bei dem Gedanken, dass er vor wenigen Stunden direkt unterhalb der gefangenen Anna durch den Brunnen geschwommen war.
„Deshalb ist der Schlüssel zum Gefängnis von minderer Bedeutung“, fuhr der Alte fort. „Er hängt unten im Turm an der Wand an einem Haken.“
„Das ist nicht besonders sicher, oder?“ wunderte sich Magnus.
„Nun ja, die wirklich wichtigen oder gefährlichen Gefangenen, die werden oben auf der Burg festgehalten. Da kommt niemand heran. Der Turm ist nur für das niedere Volk, damit alle sehen, was mit Verbrechern geschieht.“
„Ihr meint, ich könnte durch den Brunnen hinaufsteigen, ohne dass es irgendjemand merkt und Anna dann wieder durch den Brunnen zu der geheimen Kammer bringen?“
„Genau das ist der Plan.“
„Aber wenn gerade zu der Zeit doch die Wache herunterkommt und Wasser aus dem Brunnen schöpfen will, was dann?“
„Das Risiko ist gering, aber dennoch musst du es eingehen. Einen besseren Plan haben wir nicht.“
„Kann ich Anna denn nicht hierher und dann aus der Stadt hinausbringen?“
„Willst du mit einer verurteilten Verbrecherin durchs Tor spazieren? Die Wachen sind verschärft worden, seit das Volk so unruhig ist. Und wenn Annas Entkommen bemerkt wird, werden sie jedes Mädchen, das die Stadt verlässt verdächtigen.“
„Oder kann sie nicht hier bei Euch bleiben?“
„Nein, denk nach, Junge. Sie kann die Stadt nicht verlassen, ohne erkannt zu werden. Und was soll das Mädchen hier inmitten eines Aufstands mit nichts als einer hölzernen Tür zwischen sich und den Straßen der Stadt? Wir wissen nicht, wie heftig die Kämpfe sein werden und wie lange sie andauern. Anna wird in der Kammer über dem Wasser erst einmal sicher sein. Wenn wir wissen, wie sich die Lage entwickelt, kannst du einen bessern Plan machen.“
Magnus blieb eine Weile still.
„Ich danke Euch, Baumeister“, sprach er dann. „Auch wenn mir das Herz zittert. Ich bin kein guter Held!“
„Um ein guter Held zu sein muss du vor allem ein guter Beschützer sein und damit hast du längst angefangen. Anscheinend ist dies deine Aufgabe. Also geh jetzt und bereite dich vor.“
Der Alte klopfte dem Jungen noch einmal auf die Schulter, bevor er ihm die Tür nach draußen öffnete.
„Und denke daran, Magnus: Sprich mit niemandem über diesen Gang!“