Es waren noch zwei Tage bis zur Hinrichtung der verurteilten Korbmacherin.
Magnus war schon seit dem frühen Morgen in der Stadt unterwegs. Das Wetter war umgeschlagen und nasse Schneeflocken wirbelten, von einem starken Wind getrieben, durch die Luft. Auf den Gassen bildeten sich glitschige Wasserlachen und die Menschen zogen ihre Mäntel enger um sich.
Am Vormittag kehrte Magnus in seine Kammer im Gasthof zurück. Sorgfältig verriegelte er die Tür von innen und breitete seine Besorgungen auf der Schlafstatt aus. Da war ein warmer Umhang, ein Leintuch, einige warme Kleider, von denen er hoffte, dass sie Anna passen würden, Strümpfe, Schuhe und neben einigen Kleinigkeiten noch ein Beutel mit Brot, Nüssen und Äpfeln. Er wickelte alles eng in ein Stück geölten Leders und band das Bündel fest zu. Die langen Enden der Schnur knüpfte er zu Schlaufen, so dass er sich alles wie einen Rucksack über die Schultern streifen konnte.
So bepackt machte er sich auf den Weg hinunter zur Stadtmauer. Nachdem er sich versichert hatte, dass niemand auf der Gasse war, klopfte er an die Tür des Baumeisters. Der Alte öffnete und ließ ihn wortlos ein.
„Ich möchte die Kammer für Anna vorbereiten. Wenn wir auf der Flucht sind, will ich mich nicht mit dem schweren Bündel belasten.“
„Sehr gut Junge! Du machst es richtig.“ Der Alte entzündete eine Laterne und reichte sie dem Jungen.
„Ich weiß nicht, ob ich wirklich schaffe, Anna zu befreien, aber wenigstens soll alles bereit sein“, sagte Magnus.
„Die Kraft wird von selbst kommen, wenn du dich entschieden hast, deine Taten zu vollbringen“ sagte der Alte. „Und es sieht ganz so aus, als hättest du das.“
Magnus dankte ihm und stieg dann mit der Laterne und seinem Bündel in die Truhe.
Als der Deckel über ihm zugeklappt und er allein in dem Gang unter der Stadtmauer war, verzagte sein Herz. Jetzt musste er allein den Weg zur geheimen Kammer gehen.
Es kann mir nichts passieren, sagte er zu sich selbst und wiederholte diese Worte in seinen Gedanken immer wieder.
Mit zitternden Knien machte er sich auf den Weg. Die Bewegung beruhigte ihn ein wenig. Aber dass vor ihm nur tiefe Finsternis war und nicht der Rücken des Baumeisters, ängstigte ihn wieder. Er war ganz allein hier unten in der Finsternis. Was, wenn er den Durchgang zum Brunnen nicht rechtzeitig erkennen würde? Er streckte den Arm mit der Laterne weit vor sich aus und hielt den felsigen Boden im Auge.
Aber er hätte sich nicht solche Sorgen machen müssen, denn ohne den Baumeister war er schneller und bald schon zeichnete sich der Brunneneingang mit seinem helleren Schatten deutlich vor ihm ab.
Jetzt alles ganz in Ruhe machen, dachte Magnus und sein Herz hämmerte.
Er stellte nahezu geräuschlos die Laterne auf den Boden vor die Öffnung, so dass ein wenig Licht in den Brunnenschacht fiel. Dann ließ er sein Bündel von den Schultern gleiten, setzte sich und tauchte langsam und leise erst die Füße und dann die Waden ins Wasser. Es war so kalt, dass sein ganzer Körper erschauerte. Er musste sich zwingen, sich ganz in hineingleiten zu lassen.
Das Wasser drang durch seine Kleider und umspülte eisig seine Haut. Aber er schaffte es, so gut wie kein Geräusch zu verursachen und das machte ihm Mut. Im Wasser schwimmend griff er vorsichtig nach dem Bündel, hielt es mit beiden Händen über seinen Kopf und schwamm damit auf die andere Seite.
Die Anstrengung ließ ihn nach Luft schnappen. Er hörte sein schnelles Atmen wie leise Seufzer an den Wänden des Brunnenschachts wiederhallen. Endlich war er drüben und lud seine Last an der Öffnung der Mauer ab. Er gönnte sich keine Pause, denn die Kälte drohte ihn umzubringen. Rasch schwamm er zurück, griff die Laterne und hielt sie über das Wasser. Das war viel einfacher als mit dem Bündel und er glitt lautlos wie eine Ratte auf die gegenüberliegende Öffnung zu.
Mit eisigen Gliedern stützte Magnus die Hände auf den Rand des Schachtes und zog sich aus dem Wasser. Jetzt gurgelte und plätscherte es doch. Er erstarrte, die Beine noch im Wasser. Als sich nichts von oben rührte, traute er sich, vorsichtig ein Knie auf den Felsboden zu stützen und ganz aus dem Wasser zu steigen. Seine Glieder schienen gefühllos und seine Zähne klapperten vor Kälte. Mühsam lud er sich das Bündel wieder auf den Rücken, griff die Laterne und machte sich eilig auf in den Gang.
Trotz der nassen Kleider frohlockte jetzt sein Herz. Er hatte den schwierigsten Teil geschafft! Beflügelt eilte er den zweiten Teil des Ganges entlang, ja er rannte sogar ein Stück, um wieder warm zu werden. Viel eher als vermutet, sah er den Lichtschimmer des Fensters, das zum Stadtgraben führte. Hier musste er nur einmal schwimmen, denn die Laterne konnte im Gang bleiben. Und außerdem musste er nicht so leise sein.
Er ließ sich in das Wasser des Stadtgrabens gleiten, prustete und schnappte wiederum vor Kälte nach Luft. Ein zweites Mal hob er das Bündel über seinen Kopf. Diesmal musste er einen weiteren Weg schwimmen und seine Arme wollten schon nachgeben, als er endlich die Türschwelle der geheimen Kammer erreichte. Er warf das Bündel regelrecht hinein und stürzte eilig hinterher.
Schwer atmend schaute er sich in der Kammer um. Es war alles unverändert. Er prüfte sein Bündel und sah, dass das Leder nur von außen ein wenig Nässe abbekommen hatte. Also ließ er es so liegen, wie es war. Er wollte so schnell wie möglich zurückkehren.
Rasch schwamm er zum Gang zurück und lief so schnell er konnte bis zum Brunnen. Die nassen Kleider scheuerten an seiner Haut, aber so lange er in Bewegung blieb konnte er es einigermaßen aushalten. Jetzt hatte er schon Routine darin, die Laterne übers Wasser zu bringen. Das letzte Stück bis zu den Stufen unter der Truhe eilte Magnus in einem Hochgefühl dahin. Vielleicht würde sein Plan ja tatsächlich aufgehen!
Der Baumeister erwartete ihn mit einem Feuer, trockenen Kleidern und einer Schale Brei.
Dann reichte er dem Jungen einen großen Schlüssel. „Hier Magnus, das ist der Schlüssel zu diesem Haus. Ich werde die Stadt für einige Zeit verlassen. Ich bin zu alt für Krieg und Aufstände.“
„Ich danke Euch, Baumeister!“ sagte Magnus und barg den Schlüssel in seinem Gewand.
Dann machte er sich auf den Weg, denn auf ihn wartete heute noch eine weitere Aufgabe.
„Viel Glück Junge“, sagte der Alte.
„Viel Glück auch Euch, Baumeister“, antwortete Magnus und beide umarmten sich zum Abschied.
Magnus lief eilig in den zweiten Ring der Stadt, denn dort wusste er Lukas von Rossen und Ritter Franz im Haus des Schmieds. Als er in die Schmiede eintrat, fand er nur eine kalte Esse vor. Aber er hörte Stimmen hinter einer schweren Tür. Magnus klopfte. Sofort war Stille hinter der Tür.
„Wer da?“ hörte er Lukas Stimme in barschem Ton.
„Ich bin’s, Magnus!“
Sofort wurde ein Riegel zurückgeschoben und der Junge in eine Kammer eingelassen. Die Ritter und der Schmied standen inmitten von Fässern unterschiedlichster Größe.
„Ihr seid zu spät, Magnus“, sagte Lukas wohlgelaunt. „Wir haben unsere Arbeit schon fast erledigt.“
Magnus betrachtete die Fässer genauer.
„Seht her“, erklärte Franz voller Eifer. „In den Fässern ist das Schießpulver. Im Deckel von jedem Fass ist ein Loch, in dem die Lunte steckt.“
Magnus sah dünne, in Wachs getauchte Seile aus den Fässern heraushängen.
„Man zündet die Lunte an einem Ende an und wenn das Feuer im Fass ankommt – Bummm!“ Franz machte eine ausholende Geste und seine Augen leuchteten.
„Und wie lange braucht das Feuer, bis es am Fass ankommt?“ fragte Magnus.
Die Ritter berichteten nur zu gerne, wie das Sprengfeuer funktionierte. „Wenn die Lunte brennt, dann hat ein Mann genügend Zeit, sich zu entfernen. Wenn er rennt, ist er auf jeden Fall rechtzeitig so weit weg, dass ihn die Explosion nicht erreicht“, erklärte Lukas.
„Man kann die Fässer aber auch mit brennender Lunte rollen“, fuhr Franz fort. „Dann ist es noch sicherer.“
„So werden wir das am Burgtor machen“, ergänzte der Schmied.
„Und wie viel Sprengkraft hat so ein Fass?“ fragte Magnus.
„Dieses große hier“, Ritter Franz zeigte auf ein dickes, halb mannshohes Fass in dem einmal Wein gewesen sein musste. „Dieses große hier wird mühelos das Burgtor aufsprengen und wohl auch noch ein bisschen was vom Torbogen mitnehmen.“
Lukas hob vorsichtig eins von vielen kleinen Fässern in der Größe von etwa einem Bierkrug hoch. „Die kleinen Fässer werden wir in der Schlacht verwenden. Man kann sie anzünden und in die Menge der Feinde werfen, dann hat man zwei Dutzend Widersacher weniger.“
Magnus schluckte. „Also die kleinen können keine Mauern sprengen?“
„Doch schon“, antwortete Franz nicht ohne Stolz. „Wenn man hier drin so ein kleines Fässchen zünden würde, dann wäre von der Wand dieser Kammer hier nur noch ein Haufen Steine übrig.“
Magnus blickte erschauernd auf die vielen Fässer, die um sie herumstanden. Damit könnte man die halbe Stadt in Schutt und Asche legen!
„Genug geredet“, ermahnte Lukas seine Gefährten. „Wir haben noch viel zu tun! Bis morgen früh müssen die Fässer in der Stadt verteilt sein.“
Und so machten sie sich ans Werk. In der Abenddämmerung begannen sie, leise und unauffällig alle Fässer, die ein Mann allein tragen konnte, zu den geheimen Verstecken in der Stadt zu bringen. Die großen Fässer sollten erst bewegt werden, wenn der Aufstand begonnen hatte.
Magnus nahm vom Schmied ein kleines Fässchen nach dem anderen in Empfang und trug es durch die Gassen. Erst spät in der Nacht versammelten sich alle wieder in der Schmiede.
„Geht nun in Eure Quartiere, Freunde, und ruht Euch gut aus“, sprach Ritter Lukas. „Morgen ist unser großer Tag!“
Magnus trat von einem Fuß auf den anderen. „Herr Lukas, wenn Ihr erlaubt“, setzte er an. „Ich werde nicht im Gasthof nächtigen, sondern im Haus des Baumeisters.“
Der Ritter schaute Lukas voller Wohlwollen an. „Dann ist morgen auch Euer großer Tag und Ihr werdet Euer Vorhaben in die Tat umsetzen?“
„Ich werde es zumindest versuchen“, antwortete Lukas.
„Können wir dich irgendwie unterstützen?“ fragte Ritter Franz.
„Haltet so viel wie möglich Leute vom untersten Stadtring fern“, bat Magnus.
„Das ist kein Problem“, konstatierte Lukas. „Der Aufstand wird in den oberen Ringen der Stadt beginnen. Alle werden dorthin strömen oder sich in ihren Häusern verriegeln.“
Die Männer wünschten sich Glück, bevor sie auseinandergingen.
Magnus kehrte in der Dunkelheit zurück zum Haus des Baumeisters, nahm den Schlüssel aus seinem Gewand und schloss die Tür auf. Er schob von innen den Riegel vor und sank erschöpft auf die Bettstadt. Nach einer Weile griff er die Decke auf dem Bett und zog sie vorsichtig zur Seite.
Da lag es, das kleine Fass mit der Wachslunte, das er heimlich hergebracht hatte.