Es war tiefe Nacht, als die Gefangene im Wehrturm ein schon vertrautes Geräusch hörte.
„Psst, Anna, bist du wach?“ flüsterte Magnus oben auf der Gasse.
„Ja. Was machst du hier zu dieser Zeit? Der Morgen ist noch fern!“
„Anna, ich werde dich einige Tage nicht mehr besuchen. Ich habe eine Möglichkeit gefunden, dich zu befreien. Aber dafür muss ich für eine Weile die Stadt verlassen.“
Er hörte das Mädchen unten in der Finsternis schluchzen.
„Hab keine Angst!“ sagte Magnus. Es tat seinem Herzen weh, Anna in ihrer Verzweiflung alleinlassen zu müssen.
„Bleib nicht zu lange fort. Sie können jeden Tag kommen und mich holen!“
„Das werde ich nicht zulassen!“ Insgeheim aber war dem ehemaligen Novizen bange. Er wusste nicht, wie lange sich der Bischof damit Zeit lassen würde, seinen Plan umzusetzen.
In dieser dunklen Stunde vor dem Morgengrauen hielten sich Anna und Magnus lange an den Händen. Als hinter der Stadtmauer der erste Lichtstreifen am Horizont erschien, sagten sie sich Adieu. Und während Anna voller Angst in ihrem Kerker zurückblieb, machte sich Magnus auf zum Stadttor, das bei Sonnenaufgang geöffnet wurde.
Der junge Mann überquerte die Brücke über dem Wassergraben und wanderte dann mit eiligen Schritten durch das weite Umland der Stadt. Er folgte Karrenwegen, die durch schlecht bestellte Felder und abgeholzte Wälder führten. Der Stadtherr ließ alle Bäume für seine Öfen und Bauten fällen, versäumte es aber, neue zu pflanzen. Auf den Feldern lag braunes Unkraut in den ersten Bodenfrösten darnieder.
Während er lief, tastete Magnus nach dem kleinen Beutel unter seinem Wams, in dem wohlgeborgen die Goldmünze lag.
Als die Sonne schon ihren tiefen Mittagsstand überschritten hatte, gelangte er an einen Landsitz mit Stallungen und einigen ordentlichen Weiden. Pferde suchten dort nach den letzten grünen Grashalmen des späten Herbstes. Es waren schöne und starke Tiere. Keine mageren Ackergäule, sondern Schlachtrosse, Reit- und Kutschpferde.
Magnus trat auf den Hof und klopfte an die Tür des Wohngebäudes.
Zu seinem Erstaunen öffnete ihm Ritter Lukas von Rossen höchstselbst. Er erkannte es an der gut gearbeiteten Reiterkleidung, die der mächtige Recke trug, und an einem Silberbecher, den er in der Hand hielt.
„Oh, Besuch!“ sagte der Ritter und nahm den jungen Mann mit abschätzigem Blick in Augenschein.
„Verzeiht die Störung“, Magnus verbeugte sich. „Mein Name ist Magnus, ich komme in einer Angelegenheit, die vielleicht für uns beide von Interesse ist. Es geht um den Stadtherrn und das Volk in der Stadt.“
Der Ritter hob die Augenbrauen, trat dann einen Schritt zurück ins Haus und deutete mit dem Becher ins Innere.
„Tretet ein, Fremder. Ihr scheint nicht bewaffnet zu sein, sonst hätte ich glatt Angst vor Euch!“
Das war der reine Spott, denn der ehemalige Novize war von schmaler Gestalt, und in keiner Weise im Kampf trainiert. Und weil Magnus sich seiner selbst bewusst war, verzog sich sein Gesicht zu einem breiten Grinsen.
„Seid versichert, ich tu‘ Euch nichts!“
Und die beiden ungleichen Männer lachten, als sie in des Ritters Haus traten.
„Mögt Ihr einen Becher Wein?“ fragte Lukas von Rossen.
„Vielleicht erst, wenn ich mein Anliegen vorgetragen habe!“ lehnte Magnus höflich ab.
„Kluge Entscheidung“, sagte Lukas. „Ich hoffe, es ist ein Anliegen, dass mir auch einen Grund gibt, vom Rebsaft abzulassen. Aber wenigstens setzen wollt Ihr Euch sicherlich und einen Krug Wasser trinken und ein wenig essen. Ihr seid anscheinend den ganzen Weg zu Fuß gekommen.“
Dankbar nahm Magnus das Wasser an und trank in tiefen Zügen, während der Ritter ihm ein Brett mit Brot und Käse hinstellte.
„Entschuldigt, mir ist mein Gesinde abhandengekommen. Ich kann die Leute nicht mehr bezahlen. Ich musste mich entscheiden, meine Diener zu füttern oder meine Pferde.“
Magnus nahm ein paar Bissen, ließ aber schon bald Brot und Käse liegen. Er war nicht zum Essen hergekommen.
„Ihr habt sicherlich vernommen, dass es in der Stadt unter dem Volk nicht zum Besten steht?“ Noch war sich der junge Mann nicht sicher, ob die Gerüchte um Ritter Lukas stimmten. Er wollte nicht riskieren von einem Getreuen des Stadtherrn als Verräter gefangen zu werden.
„Nicht zum Besten?“ Der Ritter taxierte seinerseits den anderen. „Was habt Ihr auf Eurem Weg hierher gesehen, junger Magnus?“
„Faulende Felder und zerstörte Wälder!“ antwortete sein Gast.
„Und was habt Ihr in der Stadt gesehen?“
Die Fragen des Rittes schienen erkennen zu lassen, wes Geistes Kind er war und Magnus wagte sich ein wenig hervor.
„Die Menschen sind arm und frieren. Manche hungern, andere sind krank und der Tod geht von Tür zu Tür. Es regt sich wachsender Unwille. Der Pöbel versäuft seine letzten Heller und hetzt gegen alles und jeden. Die Händler und freien Bürger fürchten um ihre Sicherheit und ihr Hab und Gut.“
Lukas nickte bedächtig, während Magnus redete. Dann schaute er dem Jungen in die Augen und sagte ganz ruhig: „Ihr wisst schon, dass das aufrührerisches Gerede ist?“
Magnus durchfuhr es heiß, aber er glaubte zu erkennen, wie es sein Gegenüber meinte. Es half nichts, er musste jetzt alles auf eine Karte setzen.
„Ja, Herr Lukas, das ist es. Und deshalb bin ich hier. Ich hörte, dass Ihr bereit wäret, gegen diese Zustände vorzugehen, wenn Ihr nur die Mittel hättet.“
Die Augen des Ritters verengten sich. War das eine Falle? Sollte dieser Junge ihn einfach nur des Verrats überführen und gleich würden aus allen Ecken die Häscher hervorspringen?
„So, so,“ antwortete er, „hört man das?“ Er trank einen Schluck aus seinem silbernen Becher. „Man sollte nichts um das Gerede der Leute geben. Aber gleichviel: Ihr sitzt vor einem verarmten Adligen, der gar nichts finanzieren kann. Keine Diener, keinen Kreuzzug und auch keinen Aufstand.“
Da griff der junge Magnus unter sein Wams, holte die Münze hervor und legte sie bedächtig auf den Tisch.
Dem Ritter gingen die Augen über. Wortlos nahm er das Goldstück in die Hand und drehte und wendete es, so dass sich das Licht daran brach.
„Wer seid Ihr wirklich, junger Magnus und was wird hier gespielt? Hat Euch der Bischof mit einem Teil seines Schatzes hergeschickt, um Worte aus mir herauszulocken, die mich den Kopf kosten und ihm mein Gestüt einbringen?“
„Nein Herr, mich hat niemand geschickt, schon gar nicht der Bischof.“ Und dann erzählte der ehemalige Novize die Geschichte von Anfang an. Von dem mitgehörten Gespräch zwischen dem Tuchhändler und dem Bischof, von der gestohlenen Münze und von Anna, der Korbflechterin, die im Kerker saß und auf ihr Todesurteil wartete.
Der Ritter hörte so gespannt zu, dass er noch nicht einmal aufstand, um seinen Becher nachzufüllen. Als Magnus geendet hatte, schob Lukas nachdenklich die Münze auf dem Tisch hin und her.
„Ihr seid also einfach nur ein verliebter Bursche, der ein Vermögen gestohlen hat, um eine eingekerkerte Verbrecherin zu retten. Und zu diesem Zweck wollt Ihr mich jetzt dazu anstiften, mit Eurem Diebesgut einen bewaffneten Aufstand anzuführen.“
Der junge Mann errötete und zuckte ergeben nickend mit den Schultern.
„Nun, Magnus, dann muss ich Euch sagen“, der Ritter machte eine Pause und der Junge spannte alle Muskeln an. „Dann muss ich Euch sagen, dass Ihr genau den Richtigen für Euer Vorhaben gefunden habt!“
Lukas sprang auf und lief voller Erregung ein paar Schritte auf und ab. „Das ist ein Wunder! Euch schickt der Himmel! Mir fehlt nichts als Geld! Ich habe die richtigen Leute: Besonnene Männer - kein aufgewiegelter Mob, sondern erprobte Krieger mit Herz und Verstand. Ich habe Verbindungen und ich weiß viel, sehr viel über den Stadtherrn und die Burg.“
Magnus wurde immer leichter ums Herz.
„Wollt Ihr mir wirklich diese Münze für unser Vorhaben überlassen? Es ist ein Vermögen!“
Der junge Mann nickte.
„Dann wollen wir ans Werk gehen, Junge! Kommt, ich muss einige Freunde aufsuchen.“
Der Ritter legte einen prächtigen Harnisch an. Auf jeder Schulter war ein Achselstück in Form einer Maske befestigt und in der Mitte des Brustpanzers prangte auf einem Wappen ein runder Krebs.
Gemeinsam gingen die ungleichen Männer in die Stallungen. Lukas spannte ein schwarzes und ein weißes Ross vor einen schönen, leichten Wagen.
„Kommt herauf, junger Magnus“, rief der Ritter vom Kutschbock und hielt die Pferde im Zaum, die begierig den Aufbruch erwarteten. „Wir haben einen Weg vor uns und es gibt Taten zu tun!“
Magnus stieg auf den Wagen, Lukas schnalzte mit der Zunge und die Pferde zogen an. Rasch nahm der Wagen Fahrt auf und Magnus Herz füllte sich mit Hoffnung.