Es war einmal vor langer Zeit ein kleines Kloster vor den Toren einer großen Burgstadt.
Die Stadt war auf einem hohen Hügel gebaut und ganz oben wurde sie von einer großen Burg gekrönt. Unterhalb der Burg, an den Hängen des Hügels, lagen die vier Stadtringe mit ihren Häusern und Gassen. Am Fuß des Hügels war die Stadt rundum von einer mächtigen Mauer umgeben. Und die Mauer war geschützt durch einen breiten Wassergraben.
Nur am Stadttor, das nach Süden hinausging, gab es eine gemauerte Brücke über den Graben. Im Westen verlief die Mauer durch einen hohen Wachturm, im Norden der Stadt breitete sich ein großer Wald aus und im Osten lagen die Felder der Bauern.
Eine Handelsstraße streifte die Stadt von Süden nach Westen. Und unweit dieser Straße lag das kleine Kloster mit seinem Garten.
Und es begab sich, an einem Morgen im frühen Winter, als die Nebel noch über den Feldern lagen, die Luft schwer und alle Farben fahl waren, dass die Glocke am Tor erklang. Gerade in dem Moment ging die Mutter Oberin über den Klosterhof und wunderte sich. Es gab nur selten Besuch im Kloster und schon gar nicht zu so früher Stunde.
Sie ging zum Tor und öffnete, aber es war niemand da. Nur zu ihren Füßen lag ein Bündel Lumpen. Und als sie es aufheben wollte, fand sie darin, notdürftig eingehüllt, ein neugeborenes Mädchen. Das Kind blickte sie mit großen, staunenden Augen an und als die Oberin es hochnahm, ruderte es mit den kleinen Ärmchen und Füßchen. Und weil das kleine Mädchen so still und lieb schaute, als wäre ihm gar kein Leid geschehen, schloss die Oberin es ins Herz und nahm es mit hinein.
Als die Schwestern der Ordensgemeinschaft den Säugling sahen, wunderten sich und wandten ein, dass sie gar nicht auf ein Kind eingerichtet seien und doch selbst kaum genug zu essen hätten. Die drei Ziegen gaben jetzt zum Winter nur noch wenig Milch. Es würde gar nichts übrigbleiben, wenn sie das Kind ernähren wollten. Eine Schwester wandte sogar ein, dass das Kind womöglich ein Wechselbalg und des Teufels sei.
Aber die Oberin barg das kleine Mädchen in ihrem Mantel und sagte:
„Es gibt von jedem Menschenkind immer nur eins. Und jedes hat eine einzigartige Seele. Wenn wir dieses hier dem Tode überlassen, wird das Wirken seiner Seele für immer verloren gehen.
Es ist nicht unsere Sache, darüber zu befinden, ob dies ein gutes oder ein schlechtes Kind ist.“
Da schämten sich die Schwestern ob ihrer Sorge um sich selbst und öffneten ihre Herzen für das kleine Mädchen, das ihnen geschenkt worden war. Sie nannten es Anna.
Und so wuchs die kleine Anna im Kloster auf. Sie war ein fröhliches und anstelliges Kind, das den Schwestern Freude bereitete. Sie erledigte alle Arbeiten, die ihr aufgetragen wurden, mit Fleiß und Geschick. Sie lernte, im Garten Gemüse und Kräuter zu ziehen, Käse zu machen, zu kochen, zu backen, zu spinnen und zu weben und das Haus und sich selbst reinlich zu halten. Sogar ein wenig Lesen und Schreiben brachte die Oberin ihr bei.
Am liebsten aber lief Anna zum nahegelegenen Bach und schnitt Binsen. Daraus fertigte sie Körbe und aus den Resten band sie Besen. In dieser Kunst brachte es das Mädchen zu großem Geschick und begann, auch aus Weidenzweigen und Baumrinden Gefäße zu machen, die überall im Kloster Verwendung fanden.
Aus dem Kind wurde ein junges Mädchen mit langem, sandfarbenem Haar, einer sommersprossigen Stupsnase und großen, grünen Augen. Sie war nicht sehr hoch von Wuchs, aber durch die viele Arbeit kräftig und geschmeidig. Da sie immer nur von den gottesfürchtigen Schwestern umgeben war, lernte sie, sittsam und bescheiden einherzugehen und jedem Geschöpf mit Freundlichkeit zu begegnen.
Als Anna herangewachsen war, rief die Oberin sie zu sich.
„Da du nun kein Kind mehr bist, kannst du nicht mehr im Kloster wohnen. Geh hinaus und versuche dein Glück in der Stadt.“
Da erschrak das Mädchen. „Aber liebe Oberin, bin ich denn hier nicht nütze? Verrichte ich meine Arbeit nicht gut?!“
„Doch, das tust du“, erwiderte die Oberin. „und wir werden dich und deiner Hände Werke sehr vermissen. Aber Gott will von jeder Seele, dass sie ihre Gaben der Welt überreicht. Es ist deine Aufgabe, deinen Platz in dieser Welt zu finden. Und das kannst du nur außerhalb der Klostermauern.“
Und sie reichte dem Mädchen zum Abschied eine Münze. Es war dies ein sehr besonderes Goldstück. Schwer lag es in der Hand des Mädchens.
„Verwahre sie gut!“ mahnte die Oberin. „Es ist eine heilige Münze, in ihr wohnt große Macht. Sie kann Türen öffnen, aber auch verschließen. Verwende sie nur in höchster Not. Und gedenke meiner Worte: Die Münze wirkt nur Gutes, wenn mit ihr kein Handel getrieben wird.“
Anna versprach, sich die Worte der Oberin zu Herzen zu nehmen und trug die Münze fortan in ihren Gürtel verborgen bei sich.
Und nachdem sie alle Schwestern zum Abschied umarmt hatte, machte sich Anna auf in die Stadt, um ihr Glück zu versuchen.